Meine Mutter heißt Sorge
Vor gar nicht langer Zeit hießen die Herbstferien für die Schüler noch Kartoffelferien. Klar, denn der Oktober ist so ein richtiger Erntemonat. Vieles ist schon geerntet, und manches muss noch vom Feld. Da ist gutes Wetter besonders wichtig, und wenn das Wetter gut ist, macht das Kartoffellesen selbst für Schüler noch einigermaßen Spaß. So jedenfalls habe ich das als Kind selbst miterlebt.
Kein Wunder, dass wir im Oktober viele Erntebräuche haben und erleben dürfen. Kein Wunder? - Wieso eigentlich kein Wunder, fragte ich mich spätestens, als ich ein wenig über jenes Gedicht nachdachte, das ich in der Materialsammlung zum Erntedankfest gefunden hatte? Jenes Gedicht ist von einem 12-jährigen Mädchen aus Korea geschrieben worden und lautet folgendermaßen:
Meine Mutter heißt Sorge,
Im Sommer sorgt sie sich um Wasser, im Winter sorgt sie sich um Kohle und das ganze Jahr sorgt sie sich um Reis.
Am Tage sorgt sie sich um das Essen, in der Nacht sorgt sie sich um die Kinder, jeder Tag ist ausgefüllt mit Sorgen.
So Heißt meine Mutter Sorge,
mein Vater heißt Zorn,
er ist oft betrunken
und ich - ich heiße:
Tränen und Seufzer.
Zunächst war ich doch verwundert über dieses Gedicht, und ich fragte mich, was das wohl mit dem Erntedankfest zu tun hat? - Dann aber stellte ich fest, hier will mir niemand etwas unterjubeln und hier will niemand etwas von mir. Da steckt kein Spendenaufruf dahinter, der erst mal auf die Tränendrüsen drückt, sondern dieses Gedicht will mir "nur" die Augen öffnen - für mein Leben. Es sagt mir: Denke daran, nichts ist selbstverständlich im Leben und schon gar nicht, dass du um viele wichtige Dinge deines Lebens nicht zu kämpfen brauchst, wie Essen und Trinken, Wohnung und Kleidung, soziale Sicherheit und Freiheit, Liebe und Freundschaft usw. und dass du in ganz anderen Verhältnissen aufwachsen durftest und leben darfst, als dieses Mädchen aus Korea und als viele Millionen andere. Das alles ist mir geschenkt und ich staune immer mehr darüber. Und in dem Maße, wie mir der Wert dieser und vieler anderer großartiger Geschenke meines Lebens wieder bewusst wird, werde ich ein dankbarer Mensch. Manchmal muss man sich regelrecht erst dazu zwingen, das Gute im eigenen Leben und in der Welt zu sehen. Aber es lohnt sich.
Wer das Wertvolle und Gute im eigenen Leben entdeckt hat, kann sich auch viel leichter wieder der Not des Mitmenschen zuwenden.
Offene Augen und Herzen und eine gesegnete Zeit wünscht Ihnen