Geistliches Wort im Falkensteiner Anzeiger

Verehrte Leserinnen und Leser,

ich weiß nicht, ob Sie zu denen gehören, die froh sind, dass die Monate Oktober und November endlich vorbei sind. Es waren ja in unserem Land vor allem die Monate des Erinnerns an die Ereignisse der Wende und des Mauerfalls vor 20 Jahren bis zur Wiedervereinigung. Die Medien haben versucht uns auf ihre Weise einen chronologischen Gesamtrückblick der Wendezeit und ihre Hintergründe aufzuzeigen. Ich habe viel Neues erfahren an Fakten und Zusammenhängen, die mir so noch gar nicht bewusst waren. Vor allem wurde mir immer deutlicher, dass es eine Vielzahl von wichtigen Ereignissen und Entscheidungen (und auch Fehleinschätzungen) von ganz unterschiedlichen Seiten, an ganz unterschiedlichen Orten und zu ganz bestimmten Zeiten gegeben hat, die erst in ihrem präzisen Zusammenwirken die politische Wende ermöglicht haben. Dass es sich dabei um eine Art „Wunder“ gehandelt hat, ist mir durch die nachträgliche Betrachtung der Wendezeit erst richtig klar geworden. Dabei sind wir uns hoffentlich einig, dass ein Wunder keineswegs das Handeln des Menschen außer Kraft setzt, sondern es zusätzlich mit dem Segen Gottes ergänzt. Das meint übrigens auch der Monatsspruch für Dezember. In ihm sagt der Prophet Sacharja 8, 13: „Gott spricht: Ich will euch erlösen, dass ihr eine Segen sein sollt. Fürchtet euch nicht und stärkt eure Hände.“ - Als ich diesen Satz des Propheten hörte, sah ich vor meinem geistigen Auge wieder die Menschen, die zur Wende mit ihren brennenden Kerzen aus den Montagsgottesdiensten kamen und sich unter die Demonstranten mischten und so zum Zeichen der Gewaltlosigkeit dieses Volksbegehrens wurden. Ich weiß genau, dass das nicht immer leicht war, denn die Volksseele war manchmal nahe dem Siedepunkt und es hätte nicht viel gefehlt und die friedliche Revolution wäre in eine Lynchjustiz umgekippt. Ich erinnere mich an einen der intensivsten Momente für mich. Ich war damals Kaplan in Zwickau. Wir hielten damals drei Montagsgottesdienste gleichzeitig in verschiedenen Kirchen. Ich war mit Predigen dran in der Nepomukkirche, die direkt neben Schloss Osterstein steht. In der Woche vorher war uns zu Ohren gekommen, dass sechs ehemals leitende Stasibeamte den Demospruch des Volkes „Stasi in die Volkswirtschaft" sehr wörtlich genommen hatten, und sich in einer Art Handstreich die Chefsessel der Mauritiusbrauerei Zwickau unter den Nagel gerissen hatten. Beim Bier hört ja bekanntlich der Spaß auf, und die Vorstellung, zukünftig Stasibier trinken zu müssen, war unerträglich. Mit anderen Worten, die Volksseele kochte ungeheuerlich, und zwar in ganz Zwickau. Auch war klar, dass die Leute von uns irgendetwas zu diesem Vorgang hören wollten. Ich begann damals meine Predigt, in dem ich mit einem selbst gefertigten Plakat durch meine Kirche zog, und laut rief: „Stasi nach Sibirien!“ Dabei forderte ich die Leute in der Kirche auf, mit mir gemeinsam diesen Spruch zu rufen. Tatsächlich wurde der Ruf immer lauter und irgendwie auch bedrohlicher. Direkt hinter mir lief ein evangelischer Jugendlicher mit einer Kerze in der Hand und rief immer wieder den bekannten Satz: „Keine Gewalt!“Nur leider konnte man diesen Satz nicht bzw. kaum hören. Erst als ich nach meinem Rundgang durch die Kirche wieder vorn im Altarraum angekommen war und selbst aufhörte zu rufen, hörte man mehr und mehr den Ruf zur Gewaltlosigkeit des Kerzenträgers, bis er dann plötzlich nur noch allein zu hören war: „Keine Gewalt!“

Als uns dabei plötzlich bewusst wurde, was jetzt hier zumindest verbal geschehen war, schämten wir uns dafür. Doch später konnte ich den Leuten sagen, dass es an diesem Tage mehr denn je darauf ankäme, sich unter die Demonstranten zu mischen und das Zeichen der Gewaltlosigkeit hochzuhalten. Selbstverständlich sind wir damals mit Zittern und Zagen unter die Demonstranten gegangen, weil wir im Gottesdienst unsere schwachen Hände und Herzen gestärkt hatten und weil wir dort spürten, dass wir gesegnet waren und dass ebenso unser Volk unter dem besonderen Segen Gottes stand. Damals haben wir deutlicher denn je gespürt, dass Glaube und Kirche kein Selbstzweck sind. Das gilt auch hier und heute. Zwar haben sich die Zeiten normalisiert, aber es gibt neue Nöte und Sorgen von Menschen, die uns nicht egal sein können. Bitten wir gerade im Advent den Herrn, dass er uns die Augen öffne und die Hände stärke für die Aufgaben unserer heutigen Zeit, damit wir ein Segen für die Welt sein können.

Einen gesegneten Advent und frohe Weihnachten wünscht Ihnen Ihr Pfarrer Konrad Köst.


Falkensteiner Anzeiger, 26.11.2009