Es ist ein Ros entsprungen

Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter
wohl zu der halben Nacht.

Das Blümlein, das ich meine, davon Jesaja sagt, hat uns gebracht alleine
Marie, die reine Magd; aus Gottes ewgem Rat hat sie ein Kind geboren
welches uns selig macht.

(Trier 1587, bearbeitet von Michael Prätorius)



Liebe Leser,

Eine wahre Begebenheit: Da sagte das Kind: „Mutti, singst du mir noch einmal das Lied vom weggelaufenen Pferd vor!“ Die Mutter: „Welches Lied?“ „Na … wie heißt es … das Roß entsprungen.“

Das Kind hatte gut hingehört, aber falsch verstanden. Und das überrascht nicht. Denn dieses Lied spricht in Bildern, die sich uns nicht gleich erschließen. Was zur Entstehungszeit des Liedes leicht verständlich war, das verschließt sich heute vielen Menschen.

Ich möchte Ihnen mit diesen Zeilen das Lied ein wenig näher bringen und Sie einladen, wenn Sie in der Advents- und Weihnachtszeit seine Melodie hören, einfach mal den Text mitzusingen - egal, ob auf dem Weihnachtsmarkt, zu einer Weihnachtsfeier oder in einem der Gottesdienste.

Im katholischen Gesangbuch findet sich das Lied in einer etwas anderen Formulierung als im evangelischen.


Das Lied bezieht sich auf eine Verheißung im Propheten Jesaja (Jesaja 11, 1): Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn …

Isai (im Lied: „Jesse“) war der Vater des Königs David und somit der Stammvater der Dynastie der Könige Israels überhaupt. Zur Zeit des Propheten Jesaja waren die Könige geistlich und menschlich verkommen. Von ihnen war nicht mehr zu hoffen, dass sie Israel nach dem Willen Gottes leiten und so zur Blüte bringen würden. So sagt Gott durch den Propheten voraus, dass er die Königsdynastie beenden werde. Im Jahr 586 v.Chr. wurde der damals noch verbliebene Rest Israels durch die Babylonier erobert. Den König setzten sie ab und blendeten ihn. Das Volk führten sie an den Euphrat ins Exil. Damit starb die Königslinie aus. Aber die Nachkommen Isais und Davids lebten weiter als einfache Menschen verborgen im Volk, wie die Wurzel eines abgeschlagenen Baumes unter der Erde. Jesaja kündigt an, das aus dieser verborgenen Wurzel einmal ein Reis (im Lied: „Ros“), das heißt also, ein neuer Keim hervor sprossen wird. Dieser Reis sproß hervor: Jesus wurde geboren. Mitten im Volk, und nicht im Palast eines Königs, geboren von einer bis dahin unbekannten Frau. Wie „uns die Alten sungen“, das heißt, die Propheten es geweissagt hatten, kam er als Nachfahre Isais, um König zu sein, König der Juden und Herr dieser Welt. Er kam, um Israel und die Menschheit mit Gott zu versöhnen und zum Heil zu führen (im Lied: „welches uns selig macht“). Die katholische Deutung versteht dabei unter „Ros“ Maria, die Jesus geboren hat (im Lied: „ein Blümlein bracht“). Die evangelische Deutung sieht in beidem, Ros und Blümlein, Jesus Christus. Wenn Sie das nächste Mal dieses Lied hören - und mitsingen, dann denken Sie daran: Es besingt die Ankunft dessen, den Gott lange angekündigt hatte, damit er uns vom Tod erlöst und mit Gott zusammen bringt.

Eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit wünscht Ihnen

Ihr Pfr. Eckehard Graubner
Falkensteiner Anzeiger, 29.11.2012