Durst

Sind Sie durstig, liebe Leserinnen und Leser?

Bei Hitze sollten wir vor allem ausreichend Flüssigkeit zu uns nehmen, raten die Mediziner, unser Körper brauche das. An normalen Tagen mindestens zwei Liter, im Hochsommer weit mehr.

Ich möchte Ihnen eine Geschichte vom Durst erzählen:

„Du trinkst zu viel!“ Den Satz hatte er aus ihrem Mund zuletzt immer öfter gehört. Als sie sich von ihm trennte, war ihr auch das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen worden. „Das war´s,“ dachte er, „jetzt ist das Leben gelaufen!“ Dabei hatte er sich, arbeitslos zu sein, ganz anders vorgestellt. Mehr Zeit haben für Frau und Kinder war immer sein Wunsch gewesen, die Wohnung gründlich renovieren ... Er hatte geschickte Hände gehabt. Jetzt stand er pünktlich 8 Uhr am Marktplatz, die Imbissbuden öffneten, nach und nach trafen die andern ein, manche ehemalige Kollegen aus der Textilfabrik, die dichtgemacht hatte. Der Tag wurde „eingetrunken“ mit Bier aus der Flasche, im Stehen, und reden - was halt Endvierziger so reden, wenn sie vormittags beim Bier aus der Flasche am Marktplatz stehen und, abgesehen vom Wetter, ein Tag dem andern gleicht.

„Saufkopp!“. Er hatte es deutlich gehört. Die alte Bauersfrau mit Kopftuch und Einkaufstasche, die eben vorüberging, hatte nicht laut, aber deutlich hörbar „Saufkopp“ zu ihm gesagt. „Du alte ...,“ rief er ihr nach. Das tat ihm sofort leid, er ging ihr nach, sich zu entschuldigen. Und was sie sich denke, wollte er wissen. Sie denke, sagte sie, dass es dumm sei, das Leben so zu vertun, schon vormittags müßig am Markt stehen, Bier trinken und die Zeit totschlagen. Ob er denn nichts Besseres vorhabe, wollte sie wissen. Er erzählte ihr vom Verlust seiner Arbeit und der Trennung von Frau und Kindern, erzählte von Leerlauf und was es bedeute, nicht zu wissen, wozu man noch da sei. Die Alte verstand ihn. Überhaupt schien sie lebensklug und erstaunlich interessiert. Und während er ihr seine Geschichte erzählte, glaubte er bereits zu spüren, dass sich nun irgendetwas ändern würde für ihn. „Saufkopp“ hatte sie ihn genannt. Ja, er trank, weil er Durst hatte - aber Durst nach Leben und die Sehnsucht, zu etwas nütze und für jemanden da zu sein. Seinen Lebensdurst hatte er zu ertränken versucht - vergeblich. „Du hast einen Durst,“ sagte die Alte, „den kein Getränk der Welt zu stillen vermag.“ Woher wusste sie das? Kannte sie ihn?

Inzwischen fährt er immer häufiger zu ihr hinaus auf das Dorf. Sie lebt allein, ihr Gehöft ist weithin verfallen. Für einen mit geschickten Händen gibt es da unerschöpflich zu tun. Die Scheune hat er bereits entrümpelt, das Dach am Wohnhaus ausgebessert, Fenster zurechtgehobelt, die Wasserleitung repariert .... Nein, das Problem der Arbeitslosigkeit ist damit keinesfalls gelöst. Aber eine Lebensgeschichte findet vielleicht heraus aus der Sackgasse. Am Abend ist er redlich müde, aber er sieht, was er geschafft hat. Zu zweit sitzen sie dann in der niedrigen Küche. Die Alte trägt Rührei auf und Holundersaft, und manchmal erzählt sie Geschichten aus ihrem Leben. Das, was er „fromme Sprüche“ genannt hätte, hört er aus ihrem Mund nie. Dabei scheint Gottvertrauen ein innerer und wie selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens. Ihre Bescheidenheit, die Fähigkeit, für Kleinigkeiten dankbar zu sein, sprechen dafür. Auch wenn sie in ihrer mütterlich unwiderstehlichen Art einfach von ihm erwartet, er solle dies und das jetzt auf die Reihe bringen, weil das für ihn dran sein, kann er ihr nicht widersprechen. Wie damals auf dem Marktplatz, als sie „Saufkopp“ zu ihm sagte und ihn ansprach auf jenen Durst, den kein Getränk der Welt zu stillen vermag. Damals hatte sie seinen Durst nach Leben wieder freigelegt. In diesem Sinn, liebe Leserinnen und Leser, nehmen Sie einen kräftigen Schluck!

Pastor Jörg-Eckbert Neels, Evangelisch-methodistische Kirche Falkenstein
Falkensteiner Anzeiger, 25.07.2019